Genial einfach oder einfach dumm

Eigentlich hätte es ein guter Tag für QM-Leiter Schulze werden können.

Er hatte sein letztes Prozessaudit in diesem Jahr absolviert und es den „bornierten Herren Produktionsingenieuren“ nochmals so richtig gezeigt. Sie hatten sich bereits im Vorfeld des Audits betont desinteressiert gegenüber Schulzes Unterstützungsangebot gezeigt und keinerlei Anstalten gemacht, ihre Baustellen zu schließen. In ihren Augen bestand ohnehin der einzige Sinn eines Audits darin, dem Auditor ein mittelprächtiges Schauspiel darzubieten, dabei von den eigentlichen Problemen effektvoll abzulenken und irgendwie das elende Zertifikat für die nervigen Kunden zu bewahren. Schulze hatte sich folglich bereits beim Betreten der Produktionshallen auf den Worst-Case eingestellt.

Nach der formalen Begrüßung war der arme Schulze sogleich verbal attackiert worden, so dass sich die lehrbuchseitig gewünschte, konstruktive Auditatmosphäre nur schwerlich einstellen wollte.

Mit einstudierten Short-Cut-Tiraden aus der QM-Unterwelt hatte Schulze sie schließlich alle ins Boxhorn gejagt und den Blitzangriff gekonnt entschärft. Selbst der sonst als eloquent geltende Produktionschef konnte Schulze  nach kürzester Zeit im Dickicht der Fachkürzel nicht mehr folgen, und das war ja auch situationsbedingt beabsichtigt, galt es doch obendrein als eindeutiger Kompetenznachweis eines professionellen Qualitäters.

Letzten Endes waren die Fronten wieder mal ziemlich verhärtet und das Audit so gar nicht im Schulz´schen Sinne verlaufen. Die Konversationslautstärke hatte sich gegen Ende reziprok zum Gesichtsabstand der Kontrahenten verhalten und Schulze, erfahrener Lead-Auditor, so der korrekte wie bedeutungsschwangere QM-Terminus, hatte die Diskussion galant mit dem Hinweis, er werde in seinem Bericht wohl „nachsichtig über diese verbale Entgleisung hinweggehen“ wieder eingefangen.

Schulze blickte aus dem Fenster und dachte über die Rolle des Qualitätsmanagers im Allgemeinen nach.

Ihm kam plötzlich die Einfachheitskurve der amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Olivia Mitchell in den Sinn, die besagte, das es bei der Präsentation von Sachverhalten einen funktionalen Zusammenhang zwischen Komplexität und Eleganz der Lösung gab, der sich durch eine Glockenkurve darstellen ließ. Mit anderen Worten, die Kurve beschrieb auf dem linken Ast den fließenden Übergang der Zustände „Hochkomplex“ in  „Dumm einfach“ infolge unangemessener Simplifizierung eines Sachverhalts, auf dem rechten Ast der den Übergang der Zustände „Hochkomplex“ zu „Genial einfach“ infolge tiefen Wissens und hoher didaktischer Kompetenz des Vortragenden.

Schulze gefiel die Kernaussage der Einfachheitskurve, die auch Einstein mit seinem Zitat: „Man muss die Dinge so einfach machen wie möglich, aber nicht einfacher“ in ähnlicher Weise zum Ausdruck gebracht hatte.

War nicht die hochkomplexe QM-Nomenklatur mit all ihren Abkürzungen und fachspezifischen Termini eine reine Schutzfunktion der QM-Kaste, eine Art Selbstüberhöhung der eigenen Expertise in Richtung des Glockendachs „Hochkomplex“? War es nicht die Daseinsberechtigung, die Legitimation eines ganzen Berufsstandes, als komplex und damit vermeintlich wissenschaftlich wahrgenommen zu werden? Trugen nicht all die QM-Experten einfach eine Urangst in sich, die da lautete, wenn wir es nicht „Hochkomplex“ machen, dann wird es vom Rest der Welt ja als „dumm einfach“, ja trivial gesehen und demzufolge verachtet? Und damit konnte schließlich auch jeder mitreden, in der heiligen Domäne des Qualitätsmanagements. Aber war es nicht gerade wünschenswert, wenn jeder zumindest ein bisschen mitreden konnte, wenn es um die Gemeinschaftsaufgabe Qualitätsmanagement ging? Oder verwechselte man vielleicht auch „Genial einfach“ mit „Dumm einfach“?

Schulze dachte an die große QM-Industrie, die sich jahrzehntelang genau in dieser Hochkomplexität inszeniert hatte und prächtig florierte. Heerscharen von QM-Managern und Fachkräften wurden ja heute noch von akkreditierten Stellen zu elitären ISO-Jüngern und Checklisten-Junkies ausgebildet. Aber war nicht genau das der Hemmschuh in den Unternehmen? Fehlte es der QM-Zunft nicht eben deshalb an Akzeptanz, weil sie sich eine hochkomplexe Parallelwelt geschaffen hatte, die niemand so richtig verstand und auch nicht so ganz verstanden werden sollte?

Schulze sah die chronologische Entwicklung des Qualitätsmanagements vor seinem geistigen Auge. Hatten die amerikanischen Qualitätsvordenker Walter Shewhart und William E. Deming in der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts eine hochkomplexe ISO-Checklisten-Kultur im Sinn? „Wohl kaum“ replizierte Schulze ins Leere. Er wusste nur zu gut, das die beiden Statistik-Koryphäen vor allem die wettbewerbsfähige Organisationsentwicklung mit Hilfe statistischer Methoden verfolgt hatten. Dazu war es notwendig, angefangen vom Management bis in den hintersten Winkel der Produktion Überzeugungsarbeit zu leisten, was den Nutzen statistischer Methoden für den nachhaltigen Unternehmenserfolg anbelangte. Dies verlangte überzeugte Qualitätsvisionäre mit fundierter Menschenkenntnis und höchster Fachkompetenz und keine selbstverliebten, statistisch ungebildeten Normverwalter. Hochkomplexe Zusammenhänge selbst gründlich verstehen und dann genial einfach darstellen, um echte Fans zu gewinnen, so musste es sein. Mit Menschen wie Shewhart oder Deming konnte damals die Einfachheitskurve von „Hochkomplex“ zu „genial einfach“ durchlaufen werden, die Erfolgsformel für den Aufschwung der japanischen Wirtschaft in den 50er Jahren und gleichzeitig die Geburtsstunde des Total Quality Managements.

Schulze blickte nachdenklich hinaus auf die grauen Produktionshallen.

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