Der Tatortreiniger

Schulze zuckte betont gleichgültig mit den Schultern und mit einem unwissenden Gesichtsausdruck gab er dem Sachverständigen zu verstehen, dass er keine Ahnung hatte, wovon dieser gerade sprach.

In der Tunicht&Gut GmbH war es kürzlich zum GAU gekommen. Es hatte vermehrt Fälle mit fehlerhaften Produkten und nachfolgenden Personenschäden gegeben, und es stand der Verdacht im Raum, dass wirtschaftliches Kalkül sowie der unbändige Risikoappetit einiger Manager trotz besseren Wissens eine massive Beeinträchtigung der Kundensicherheit vorsätzlich in Kauf genommen hätten. Somit waren am Montagmorgen zwei vollbesetzte, dunkle Behördenlimousinen auf den mondänen Parkplatz der Firmenzentrale vorgefahren. Nun frästen sich zwei Trupps dynamischer Typen mit Jeans, Lederjacken und richterlichem Durchsuchungsbeschluss ausgestattet durch die Büros des Unternehmens, immer auf der Suche nach belastbarem Material gegen die Verantwortlichen. Schulze war, vom plötzlichen Trubel vollkommen überrascht, auf recht abrupte Weise der Keramikabteilung enteilt und sah sich nun einer fragenden Meute von Ermittlern ausgesetzt. „Wo ist der QS-Leiter?” wollte irgendjemand wissen, und im Nu fand sich der verdatterte Schulze auf der Anklagebank eines provisorisch dafür eingerichteten Verhörzimmers der Razzia-Bande wieder. Schulze überlegte ein Weile, ob er die Gelegenheit ergreifen sollte, um den Ermittlern sein gesamtes Wissen auszubreiten, oder ob er sich dem Verhaltenskodex des Unternehmens verpflichtet fühlte und von seinem Schweigerecht Gebrauch machen sollte. Gründe für einen Frontalangriff hätte es genügend gegeben und der Frust über den entspannten Umgang mit Produkthaftungsrisiken im Hause Tunicht&Gut hatte Schulze schon so manch schlaflose Nacht gekostet, aber was nützte das in diesem Moment? Eigentlich konnte diese Erfahrung nur heilsam für die mangelhafte Qualitätskultur und die Arroganz der Verantwortlichen sein, die Schulze insgeheim als Fußabtreter, ja als Tatortreiniger verachtet und gering geschätzt hatten. Er sollte den Dreck möglichst schnell und geräuschlos entfernen, während die feinen Herrn den Kaviar und Schampus auf den angesagten Aftershow-Partys genossen und sich um Big Business und die Headlines der Wirtschaftszeitungen kümmerten. Sie hatten Schulze immer als einen Nörgler und kleingeistigen Bürokraten beschimpft, der Bremser und Innovationsfeind. Nun standen sie vor dem Scherbenhaufen ihrer unerträglichen Selbstherrlichkeit, all die Dampfplauderer und Hasardeure. Schulze war wie in Trance und nahm die Gestalten und das Gemurmel auf den Gängen nur noch schemenhaft wahr, während die Ermittler kistenweise Akten und PCs aus den Büros schleppten. Er dachte mit einem Mal an Toyota und an die selbstreflektierte Haltung der Führungskräfte des profitabelsten Autobauers der Welt. Mit Ihren 14 Prinzipien des Toyota-Wegs, die ihre erstaunliche und vom Westen unerreichte Wirkung in einem feinsinnigen Zusammenspiel aller Prinzipien entfalteten, waren solche Verhaltensweisen auf lange Sicht undenkbar und standen in krassem Widerspruch zur Unternehmensphilosophie. Dagegen waren westliche Unternehmen oftmals von krassem Mangelbewusstsein gekennzeichnet und auf kurzfristigen und individuellen Profit getrimmt. Dafür wurde mit den LEAN-Werkzeugen um so mehr Cargo-Kult betrieben. „Was für ein Jammer!" säuselte Schulze und klappte im schlecht belüfteten Verhörzimmer vor den erstaunten Beamten zusammen.

Schweißgebadet schreckte Schulze aus seinem Traum auf...

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